Im Februar 2022 wurde bei einem Sterbenden zufällig ein vollständiges Elektroenzephalogramm (EEG) aufgezeichnet. Die dabei beobachteten EEG Veränderungen wurden im darüber publizierten wissenschaftlichen Beitrag und den darauf erscheinenden Pressebeiträgen in einen möglichen Zusammenhang Nahtoderfahrungen (NTE) gebracht.[1]Vicente, R., Rizzuto, M., Sarica, C., et al. Enhanced Interplay of Neuronal Coherence and Coupling in the Dying Human Brain. Frontiers in Aging Neuroscience, Opan Access, 22.02.22
Der Fall basiert auf dem EEG eines 87jährigen Patienten, der nach einem Sturz beidseitig ein grosses subdurales Hämatom – eine Blutansammlung zwischen Hirnhaut und Gehirn – erlitt. Das grössere der beiden auf die Gehirnhälften drückenden Hämatome konnte drainiert, also entleert werden, worauf sich der Patient etwas erholte. Zwei Tage später traten aber Epilepsien auf. Während der diagnostischen Untersuchung mittels EEG begann das Herz aufgrund einer ventrikuläre Tachykardie plötzlich sehr rasch zu schlagen, was zu einer Minderversorgung des Gehirns mit Sauerstoff führte. Bald darauf ging die unkontrollierte Herzaktion vollends in ein Kammerflimmern über, womit der Blutfluss im Gehirn komplett zum Erliegen kam. Da der Patient nicht reanimiert werden wollte, starb er während der EEG-Aufzeichnung, die 30 Sekunden nach dem Auftreten des Kammerflimmerns, wo der Patient an sich noch nicht tot war, abgebrochen wurde. Wohl auch, weil man selber vom Herzflimmern überrascht wurde und gar nicht mit der Möglichkeit gerechnet hatte, die EEG Aufzeichnung für eine Studie zu benützen. Nach den Autoren sei dies nun die erste und einzig bekannte Aufzeichnung der ersten dreissig Sekunden eines sterbenden Patienten mittels Voll-EEG, anstelle eines simplen Frontal-EEGs.
Nach dem Zusammenbruch der Zirkulation (Post cardiac arrest) zeigte sich erwartungsgemäss ein rascher Abfall der gesamten Hirnaktivität. Relativ gesehen kam es aber zu einem Anstieg der Gammawellen sowie zu einer Zunahme der Kohärenz und Synchronisierung. Erstes spricht für eine im Vergleich zu den restlichen Hirnfunktionen weniger rasch abnehmenden Informationsverarbeitungsaktivität. Die Zunahme der Synchronisation wiederum spricht eher für eine verstärkte funktionelle Kooperation zwischen den Nervenzelleinheiten resp. den Hirnregionen.
Dies ähnelt den EEG-Beobachtungen bei sterbenden Nagern, bei welchen in den ersten 10-30 Sekunden nach Herzstillstand ähnliche Veränderungen auftraten. Vorsichtig formuliert (intriguing to speculate) deuten die Autoren der Studie darauf hin, dass aufgrund der EEG-Ähnlichkeit beim Abrufen von Erinnerung in menschlichen Hirnen, diese EEG-Veränderungen kurz nach Herzstillstand einen möglichen «Recall of Life» darstellen könnten.
An sich stellt der Fall keine ideale Ausgangslage dar. Das Gehirn war bereits verletzt, der Patient delirgefährdet und deswegen unter Medikation, dazu kam die Gabe von Antiepileptika, welche ebenfalls Einfluss auf die Hirnfunktion und damit auf das EEG nehmen. Schliesslich trat der Tot aus einer Epilepsie heraus auf. Man hatte deshalb kein Baseline EEG vor Todeseintritt zur Verfügung. Trotzdem ist anzunehmen, dass die beschriebenen Veränderungen nach Herzstillstand auch bei anderen Patienten vorkommen, zumal sich auch Parallelen zu EEG-Beobachtungen bei sterbenden Nagern zeigen.[2]Li, D., Mabrouk, O. S., Liu, T., Tian, F., Xu, G., Rengifo, S., et al. (2015). Asphyxia activated corticocardiac signaling accelerates onset of cardiac arrest. Proc. Natl./ Acad. Sci. U.S.A. 112, … Continue reading[3]Borjigin, J., Lee, U. C., Liu, T., Pal, D., Huff, S., Klarr, D., et al. (2013). Surge of neurophysiological coherence and connectivity in the dying brain. Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. 110, … Continue reading
Die Studie zeigt, dass analog zum EEG von Nagern das Gehirn nach Herzstillstand rasch heruntergefahren wird. Zu diesem Zeitpunkt ist der Tod potentiell noch umkehrbar. Der beobachtete Prozess zeigt damit hirnphysiologisch eher das Herunterfahren der Gehirnfunktion als schon dessen Sterben, das dann erst nach weiteren Minuten folgt. Aus den EEG Wellen lassen sich auch nie Gedanken ablesen, sondern vereinfacht gesagt eher Hinweise auf den Wachheitsgrad oder Bewusstseinszustand gewinnen.
Es kann durchaus sein, dass während den nun besser bekannten 30 Sekunden eines sich abschaltenden Gehirns eine NTE durchlebt wird. Gleichzeitig, und das ist auch in diesem Falle sehr bedeutsam, können NTEs auch bei völlig intakter Gehirnfunktion auftreten. Die beobachteten EEG Veränderungen können also nicht als Vorbedingungen für eine NTE angesehen werden. Gleichzeitig gibt es klare Hinweise, dass ausserkörperlich erfahrene Beobachtungen während einer NTE auch dann gemacht werden können, wenn das Gehirn die ersten 30 Sekunden des Herzstillstandes bereits hinter sich hat und nun eine Nullinie respektive ein flaches Rauschen zeigen muss, wie man das auch bei Nagern beobachten konnte. Diesbezüglich berühmte Fälle sind derjenige von Dr. Lloyd Rudy, dessen Patient nach einer Klappenoperation nicht mehr von der Herz-Lungenmaschine loskam und somit dem Sterben übergeben werden musste und während des fast zwanzig Minuten dauernden Herzstillstandes detailgetreue Beobachtungen ausserhalb seines Körpers machen konnte. Für den ähnlich gelagerten Fall von Pamela Reynolds verweisen wir Sie auf folgende Seite unserer Homepage.
Die Studie hätte damit eine Korrelation zwischen EEG Veränderungen und NTEs vermuten lassen können. Aber selbst diese hypothetische Korrelation trifft wie erwähnt nicht zu, da NTEs auch bei Menschen in höchster Alarmbereitschaft und ohne Bewusstseinsverlust auftreten können. Die beobachteten Veränderungen in einem sterbenden oder herunterfahrenden Hirn sind also keine Vorbedingung und damit wohl auch keine Ursache von NTEs.
Referenzen
↑1 | Vicente, R., Rizzuto, M., Sarica, C., et al. Enhanced Interplay of Neuronal Coherence and Coupling in the Dying Human Brain. Frontiers in Aging Neuroscience, Opan Access, 22.02.22 |
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↑2 | Li, D., Mabrouk, O. S., Liu, T., Tian, F., Xu, G., Rengifo, S., et al. (2015). Asphyxia activated corticocardiac signaling accelerates onset of cardiac arrest. Proc. Natl./ Acad. Sci. U.S.A. 112, E2073–E2082. doi: 10.1073/pnas.1423936112 |
↑3 | Borjigin, J., Lee, U. C., Liu, T., Pal, D., Huff, S., Klarr, D., et al. (2013). Surge of neurophysiological coherence and connectivity in the dying brain. Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. 110, 14432–14437. doi: 10.1073/pnas.1308285110 |