Noch vor der Publikation von Moodys Arbeiten begannen der aus Lettland stammende Karlis Osis und der Isländer Erlendur Haraldsson  in den USA und in Indien mit der Untersuchung von Sterbebettvisionen. Die Autoren kategorisierten insgesamt 255 ausgewählte Fälle und unterschieden inhaltlich zwischen diesseitigen und jenseitigen Phänomenen. Neben universalen Elementen fanden sie auch deutliche kulturelle Unterschiede. Während die Mehrheit der U.S. amerikanischen Patienten als religiöse Figuren beispielsweise Jesus, Maria oder Engel sahen, begegneten hinduistische Patienten in ihren Sterbebettvisionen Krishna, Shiva, Dämonen, Devas oder dem Totengott Yama respektive seinen Boten, den Yamdoots.[1] Osis K, Haraldson E. At the Hour of Death. Hastings House, New York, 1986 Mit ihrer Untersuchung bewiesen die beiden Forscher erstmals, dass Sterbebettvisionen kulturell geprägt sind. Im Verlauf konnte dies auch für NTE’s mehrfach bestätigt werden. Die auf dieser Homepage publizierte früheste NTE, die des Soldaten Er, über die Plato berichtet, ist ebenfalls deutlich kulturell geprägt.

Neben der deutlichen kulturellen Prägung gibt es aber auch Konstanten, die keinem soziokulturellen Rahmen zu unterliegen scheinen. Zu diesen universalen Topoi zählen hauptsächlich die Ausserkörperlichen Erfahrungen und die Begegnung mit Verstorbenen. Sie können Bestandteil von Nahtoderfahrungen verschiedenster zeitgenössischer oder vergangener Kulturen sein. Die Tunnelerfahrung scheint dagegen häufiger in westlich geprägten Kulturen vorzukommen. Wiederum können aber Elemente wie die Tunnelerfahrung auch einfach anders erlebt und anders beschrieben sein, obwohl sie miteinander verwandt oder sogar identisch sein können. So scheinen Menschen aus ländlichen Gebieten und vormoderner Lebensweise beispielsweise von der Durchquerung eines pflanzenrohrähnlichen oder kürbisgefässartigen Kelches zu sprechen, was wohl der Erfahrung eines Tunnels sehr ähnlich ist.

Nahtoderfahrungen sind auf der einen Seite also kulturell geprägt und beinhalten auf der anderen Seite gleichzeitig universale Elemente. Dies lässt verschiedene Interpretationen offen. Aus naturalistischer oder materialistischer Sicht ist die kulturelle Variabilität ein Hinweis auf den soziokulturellen Ursprung der Erfahrung. Das soziokulturelle Umfeld formt die eigene Erfahrungswelt und damit die Psyche, dessen Funktion letztendlich hirnbasiert ist. Die universalen Elemente wiederum können den Schluss nahelegen, dass es eine einheitliche genetische Anlage gibt, welche diese Elemente erzeugt.

Wenn Nahtoderlebnisse in einer tatsächlich existierenden jenseitigen Welt stattfinden, scheint es seltsam, wenn ein Inder auf einer Kuh reitend, ein Amerikaner dagegen in einem Taxi kutschierend das “Licht” erreicht. Allerdings sind solche Erfahrungen auch nicht wirklich kulturell erklärbar. Zwar schätzten Stadtbewohner das Taxi als praktisches und luxuriöses Verkehrsmittel; sie werden deswegen aber im Sterbebett nicht darauf warten, von einem vorbeifliegenden Taxi mitgenommen zu werden. Solche bizarren Elemente können nicht kulturell erklärt werden. Sie erinnern mehr an Träume, die zahllose skurrile Elemente beinhalten können. Man darf deswegen aber auch nicht voreilig die Überlebenshypothese verwerfen. Mehrere Menschen mit Nahtoderfahrungen berichten mit Erstaunen, dass eigene Gedanken in der von Ihnen besuchten Welt Form annehmen können. Damit hätten in einer Jenseitswelt auch skurrile Aspekte ihren Platz.

Referenzen

Referenzen
1 Osis K, Haraldson E. At the Hour of Death. Hastings House, New York, 1986