Mit freundlicher Genehmigung von Joachim Duderstadt (Santiago Verlag) abgedruckt aus „Howard Storm. Mein Abstieg in den Tod …und die Botschaft der Liebe, die mich von dort zurückbrachte. Santiago Verlag, 2008.“ S. 26-33.
Der Abstieg
Ich stand auf. Ich öffnete meine Augen und sah, warum ich auf einmal aufgestanden war. lch befand mich zwischen zwei Betten in meinem Krankenzimmer. Das war verstörend und überraschend; das war nicht richtig. Warum war ich lebendig? Ich hatte mich nach der Auslöschung gesehnt, nach einem Ausweg aus diesem alles beherrschenden und unerträglichen Schmerz. Könnte es ein Traum sein? Immer wieder kam mir dieser Gedanke: “Dies muss ein Traum sein!” Aber ich wusste, dass es keiner war. Es war mir bewusst, dass ich mich wacher, lebendiger und aufmerksamer als je in meinem ganzen Leben fühlte. Alle meine Sinne waren extrem lebendig. Alles um mich herum und in mir lebte. Die Linoleumfliesen auf dem Fußboden waren glatt und kühl und meine bloßen Füße fühlten sich bei der Berührung mit ihnen feucht und klamm an. Das helle Licht des Krankenzimmers erhellte jedes Detail in kristallener Klarheit. Die Geruchsmischung aus schalem Urin, Schweiß, einer Duftnote des Stärkemittels aus der Bettwäsche und von Ölfarbe füllte meine Geruchssinne mit lebhaften Eindrücken. Die Geräusche meiner Atmung und des Blutstroms in meinen Venen summte in meinen Ohren. Auf meiner Haut fühlte ich die darüber streichende Luft. In meinem Mund spürte ich Trockenheit und einen schalen Geschmack. Wie bizarr, all meine Sinne so aufmerksam und intensiv zu spüren, so als ob ich gerade erst geboren wäre. Die Gedanken rasten nur so durch meinen Geist. Dies ist kein Traum. Ich bin lebendiger, als ich es je gewesen bin. Dies ist nur zu realistisch. Ich ballte meine Fäuste und wunderte mich darüber, wie intensiv ich meine Hand spüren konnte, wenn ich eine Faust machte. Ich konnte die Knochen in meiner Hand spüren, die Muskeln, wie sie sich dehnten und zusammenzogen, wie Haut gegen Haut drückte. Ich berührte meinen Körper mit meinen Händen an verschiedenen Stellen und alles war intakt und lebendig. Intakt waren auch mein Kopf, meine Schultern, Arme, mein Unterleib und meine Hüften. Ich kniff mich — und es tat weh. Ich war mir meines Magenproblems durchaus bewusst, aber es fühlte sich nicht mehr so intensiv an wie vorher. Es war mehr eine Erinnerung an den Schmerz.
Meine Situation und die Notwendigkeit, so bald wie möglich operiert zu werden, waren mir absolut klar. In jeglicher Hinsicht fühlte ich mich lebendiger als je zuvor in meinem Leben. Ich schaute auf meinen Zimmergenossen, Monsieur Fleurin, dessen Augen halb geschlossen waren. Ich drehte mich um und sah auf Beverly, die noch immer auf dem Stuhl neben meinem Bett saß. Sie rührte sich nicht und guckte an den Boden. Ihr Anblick offenbarte, dass sie körperlich erschöpft und emotionell ausgelaugt war. Ich sprach sie an, aber sie schien mich nicht zu hören. Sie saß einfach nur da, völlig reglos. Ich stellte meine Kommunikationsversuche für den Moment ein, weil da etwas zwischen uns war, das meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Da lag ein Objekt in meinem Bett unter der Bettdecke. Als ich mich vornüber beugte, um mir das Gesicht des Körpers dort im Bett genau anzusehen, bekam ich einen gehörigen Schrecken weil ich feststellte‚ wie sehr es meinem eigenen Gesicht ähnelte. Es war doch unmöglich, dass es sich bei diesem Ding dort um mich selbst handelte, denn ich stand doch darüber gebeugt und schaute es an. Was ich sah, war ein Faksimile meines eigenen Körpers – Hände, Arme, Beine und Füße unter der Bettdecke. Es sah zwar aus wie mein eigenes Gesicht, aber sein Ausdruck war so bedeutungslos wie eine Hülle — leer und leblos. Ich stand also neben dem Bett und starrte auf das Objekt dort in dem Bett. Alles, was mich selbst ausmachte, also mein Bewusstsein und mein physisches Selbst, standen neben dem Bett. Nein, das war nicht ich, der da im Bett lag. Es war nur ein Ding, das keine Bedeutung für mich hatte. Es hätte genauso gut ein Stück Fleisch im Supermarkt sein können. Die Unmöglichkeit dieser Situation stürzte mein Denken in äußerste Verwirrung. Es kam mir vor, als ob ich verrückt geworden sei. Irgendwie hatte ich es geschafft, mich selbst in zwei Teile aufzuspalten. Ich war schizophren, vollkommen durchgedreht und wahnsinnig. Gleichzeitig hatte ich mich nie aufmerksamer und meiner Selbst bewusster gefühlt. Verzweifelt sehnte ich mich danach, zu Beverly Kontakt aufzunehmen und ich begann, sie anzuschreien, dass sie endlich etwas sagen solle, aber sie blieb wie eingefroren auf dem Stuhl auf der anderen Seite des Bettes. Ich schrie immer wütender, aber sie ignorierte mich einfach. Egal wie laut ich schrie oder sie
verfluchte, es kam keine Reaktion. Noch nicht einmal ihre Augen reagierten darauf. Sie sah kläglich aus, Sie sah kläglich aus, zusammengesunken auf ihrem Stuhl. Aber es war doch gar nicht möglich, dass sie mich nicht schreien hörte.
Jetzt drehte ich mich herum zu Monsieur Fleurin in dem Bett hinter mir. Ich beugte mich über ihn und schrie ihn nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt an: “Warum ignorieren Sie mich?” Er sah einfach durch mich hindurch, als ob ich gar nicht da sei. Dabei konnte ich doch sehen, wie meine Spucketröpfchen sein Gesicht trafen, als ich ihn anschrie. Er sah durch mich hindurch, als ob ich unsichtbar sei. Nichts funktionierte mehr so, wie ich es gewohnt war. Ich wurde immer wütender, als Aufregung, Angst und Verwirrung sich in mir breit machten.
Das Krankenhauszimmer war hell erleuchtet. Alles war lebendig und klar. Alle Details dieses Zimmers erschienen mir extrem scharf und deutlich. Jede Nuance in dem Linoleumboden, jeder Farbtropfen auf dem Stahlgestell des Bettes erschien mir vergrößert. Nie zuvor hatte ich die Welt in solcher Klarheit und Genauigkeit gesehen. Alles befand sich in solch einem extremen Fokus, dass es für mich einfach überwältigend war. Mein Geschmackssinn und meine Wahrnehmungen in Bezug auf Berührungen und Temperatur explodierten buchstäblich. Der Geschmack in meinem Mund war einfach ekelhaft, weil er so unglaublich intensiv war. “Was passiert bloß mit mir? Das ist alles so real! Aber wie kann das sein?”
Mir ging sogar durch den Kopf, dass jemand von mir eine Wachsfigur angefertigt hatte, während ich bewusstlos war. Sie hätten doch einen schnell trocknenden Abdruck von meinem Gesicht nehmen, diesen einer Puppe überziehen und in mein Bett legen können. Aber warum würde jemand so etwas machen? Ist dies irgendein Test, um zu sehen, wie ich wohl reagiere? Das macht alles keinen Sinn. Wie kann dies nur geschehen?
Etwas weiter entfernt, außerhalb des Krankenzimmers im Vorraum hörte ich Stimmen, die mich riefen. “Howard, Howard.” Es waren angenehme Stimmen, männliche und weibliche, junge und alte, die mich in englischer Sprache riefen. Vom Krankenhauspersonal sprach keiner so gutes Englisch. Sie konnten hier noch nicht einmal den Namen “Howard” anständig aussprechen. Jetzt war ich hoffnungslos verwirrt. Beverly und Monsieur Fleurin schienen diese Stimmen nicht zu hören. Ich aber fragte nach, wer sie seien und was sie wollten.
“Komm hier hin,” sagten Sie, “lass uns gehen und beeil dich. Wir warten schon eine ganze Weile auf dich.“
“Ich kann nicht,” sagte ich, “ich bin krank! Irgendwas ist mit mir nicht in Ordnung; irgendwas stimmt in mir nicht. Ich brauche dringend eine Operation. Ich bin sehr krank!
„Wir können dich wieder in Ordnung bringen,“ sagten sie, „wenn du dich beeilst. Willst du nicht wieder gesund werden? Brauchst du keine Hilfe?“
Ich war in einem mir unbekannten Krankenhaus in einem fremden Land und in einer extrem bizarren Situation, und ich bekam Angst vor diesen Leuten, die da nach mir riefen. Sie zeigten sich irritiert durch meine Fragen, durch die ich doch nur versuchte herauszufinden, wer sie waren. Der Gang draußen sah irgendwie merkwürdig aus, als ich mich jetzt der Tür näherte. Ich hatte das Gefühl, dass eine Rückkehr vielleicht unmöglich wäre, wenn ich das Krankenzimmer verlassen würde. Aber ich konnte; darüber weder mit meiner Frau noch mit meinem Zimmergenossen sprechen. Und die Stimmen fuhren fort zu rufen, “Wir können dir nicht helfen, wenn du da nicht herauskommst.” Nach weiteren unbeantworteten Fragen nahm ich an, dass sie vielleicht hergekommen waren, um mich zu meiner Operation abzuholen. Wer sonst sollte das sein? Ich entschied ihnen zu folgen, anstatt in einem Raum zu bleiben, in dem mich alle ignorierten. Und ich hatte ja schließlich eine Magenoperation wirklich dringend nötig. Ich ging also in den Gang hinein, fühlte mich jedoch sehr ängstlich. Es schien dort zwar alles erleuchtet zu sein, aber es war verschwommen, wie bei einem Fernseher mit schlechtem Empfang. Ich konnte dort keine Details erkennen. Das Ganze war so, als ob ich in einem Flugzeug säße, das gerade durch eine dicke Wolkenschicht fliegt. Die Leute waren immer noch in einem gewissen Abstand von mir und ich konnte sie nicht deutlich ausmachen. Ich konnte aber wohl unterscheiden, dass sowohl Männer als auch Frauen dabei waren, grössere und kleinere, ältere und jüngere. Ihre Kleider waren grau und sie selbst blass. Als Ich versuchte, näher an sie heran zukommen, um sie identifizieren zu können, zogen sie sich schnell immer tiefer in eine Art Nebel zurück. So war ich gezwungen, Ihnen tiefer und tiefer in eine dichte Atmosphäre zu folgen. Ich kam ihnen nie näher als drei Meter. Und ich hatte doch so viele Fragen. Wer waren sie? Was wollten sie von mir? Wohin wollten sie, dass ich gehe? Was war mit meiner Frau los? Wie konnte all dies Wirklichkeit sein? Aber sie gaben auf keine Frage eine Antwort. Ihre einzige Reaktion war, mich zu drängen, dass ich mich beeilen um ihnen folgen sollte.
Wiederholt sagten Sie mir, dass meine Probleme bedeutungslos und unnötig seien. In meiner emotionellen Notlage folgte ich ihnen, schlurfte barfuß hinter ihnen her, immer mit der Erinnerung an den Schmerz in meinem Bauch. Ich fühlte mich dabei sehr lebendig: Ich war durchgeschwitzt, ziemlich verwirrt, aber überhaupt nicht müde. Ich wusste, dass ich ein Problem im Bauchraum hatte, das einer sofortigen Operation bedurfte. Und diese Leute schienen meine einzige Hoffnung zu sein.
Jedes Mal, wenn ich zögerte, verlangten sie von mir, dass ich aufschließen solle. Und immer wiederholten sie das Versprechen, dass alle meine Probleme gelöst würden, wenn ich ihnen nur folgte. Und so liefen wir und liefen immer weiter. Meine wiederholten Anfragen wurden zurückgewiesen. Sie bestanden darauf, uns zu beeilen, um an unseren Bestimmungsort zu gelangen. Während dieser Reise versuchte ich zu zählen, wie viele es eigentlich waren. Ich wollte etwas über ihre individuellen Identitäten herausfinden, aber das konnte ich nicht. Der Nebel wurde im Verlauf unseres Marsches immer dicker und allmählich wurde es dunkler. Sie bewegten sich jetzt um mich herum und es schienen immer mehr zu werden. Ich war mir auch nicht mehr Sicher, in welche Richtung wir eigentlich gingen. Ich wusste, dass wir schon meilenweit unterwegs waren, aber gelegentlich hatte ich merkwürdigerweise die Möglichkeit, mich umzuschauen, und immer noch konnte ich dabei durch den Gang mein Krankenzimmer sehen, obwohl dessen Tür kleiner und kleiner wurde. Dieser Körper lag immer noch bewegungslos auf dem Bett. Beverly saß genauso festgefroren wie zu dem Zeitpunkt, als dieses surreale Erlebnis begann. ‘Es schien jetzt alles schon Kilometer entfernt, aber ich konnte in der Distanz doch alles immer noch erkennen.
Während unseres Marsches versuchte ich, einige Anhaltspunkte über unseren Zielort zu finden, indem ich den Untergrund, auf dem wir liefen, näher betrachtete. Ich konnte keine Wände irgendeiner Art mehr erkennen. Der Fußboden oder der Grund auf dem wir uns bewegten hatte keine besonderen Merkmale. Ich konnte nicht feststellen, ob wir bergauf oder bergab liefen oder ob es in seiner Beschaffenheit irgendeine Veränderung gab. Es kam mir vor, als ob wir auf einem glatten, kühlen, leicht feuchten Untergrund liefen. Wie konnte dieser Krankenhausgang nur so lang sein? Wie konnte dieses Stockwerk so unendlich weiter gehen‘? Wann würden wir einmal irgendwo hinauf oder hinab gehen? Einige Male hatte ich das merkwürdige Gefühl, dass wir ganz sacht irgendwohin hinabstiegen.
Auch konnte ich nicht feststellen, wie schnell die Zeit verging. Es herrschte ein intensives Gefühl der Zeitlosigkeit. Das war sehr merkwürdig für mich, denn als Lehrer war ich sehr wohl in der Lage abzuschätzen, wie lange ich zum Beispiel gerade gesprochen hatte. Ich weiß nur noch, dass es mir vorkam, als ob wir eine lange, lange Zeit marschierten. Und immer wieder stellte ich die Frage, wann wir endlich ankommen würden. “Ich bin krank,” sagte ich, “ich kann einfach nicht mehr!”
Dann wurden sie zunehmend ärgerlich und sarkastisch. “Wenn du nur aufhören würdest mit diesem Gejammer und Gejaule, dann kämen wir schneller an,” sagten sie. “Also beeil dich und lass uns weiter gehen!”
Je misstrauischer ich wurde und je mehr Fragen ich stellte, desto feindlicher und autoritärer wurden sie. Sie machten im Flüsterton dumme Bemerkungen über mein Hinterteil, das von dem Operationskittel nicht bedeckt wurde und darüber, wie jämmerlich ich mich doch aufführte. Ich wusste genau, dass sie über mich sprachen, aber wann immer ich versuchte herauszufinden, was genau sie über mich sagten, reagierten sie, indem sie: “Psssst, er kann dich hören, er kann dich hören!” zueinander sagten. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie meine Gedanken lesen konnten. Ich wusste nicht, was sie dachten. Aber es wurde offensichtlich, dass sie mich in die Irre führten. Eine Flucht wurde immer unwahrscheinlicher, je länger ich mit ihnen zusammen sein würde.
Vor einer Ewigkeit im Krankenzimmer hatte ich gehofft zu sterben und die Qualen des Lebens zu beenden. Nun jedoch wurde ich von einem Mob gefühlloser Leute unter Zwang an ein unbekanntes Ziel geführt. Und das Ganze in zunehmender Dunkelheit. Jetzt begannen sie auch zu schimpfen und mir beleidigende Worte zuzurufen, immer verbunden mit der Aufforderung, dass ich mich schneller bewegen solle. Je elender ich dabei wurde, desto mehr Vergnügen hatten sie an meiner Not.
In mir wuchs ein schreckliches Gefühl von Unbehagen. Diese Erfahrung fühlte sich einfach zu real an. In einiger Hinsicht war ich bewusster und sensibler denn je. All das, was geschah, konnte eigentlich gar nicht möglich sein, und doch passierte es. Dies war kein Traum und keine Halluzination, aber ich wünschte sehr, dass es genau das wäre. Alles, was ich früher einmal erlebt hatte, erschien mir traumhafter als das, was ich nun als Wirklichkeit durch meine Sinne erlebte. Ich war verängstigt, erschöpft, ich fror und fühlte mich verloren. Es war mir jetzt klar, dass die Hilfe, die sie mir zu Anfang versprochen hatten, nur ein Trick gewesen, war, um mich dazu zu bringen, ihnen zu folgen. Es widerstrebte mir weiterzugehen, aber jedes Zögern meinerseits führte zu noch mehr Beleidigungen und Beschimpfungen. Sie sagten mir, dass wir fast angekommen seien. Also solle ich den Mund halten und weiter laufen.
Einige dieser Stimmen versuchten einen versöhnlichen Ton anzuschlagen, was den anderen aber nur umso mehr Vergnügen bereitete. Sie wirkten triumphierend und euphorisch.
Eine lange Zeit waren wir jetzt gelaufen, während der ich immer nur nach unten geblickt hatte, um auf meine Schritte zu achten. Als ich jetzt aufblickte, bekam ich einen großen Schrecken, da ich feststellte, dass wir uns in völliger Dunkelheit befanden.
Die Hoffnungslosigkeit meiner Situation überwältigte mich. Ich kündigte an, dass ich nicht weiter gehen würde und forderte sie auf, mich in Ruhe zu lassen, weil sie Lügner seien. Ich konnte ihren Atem spüren, als sie mich daraufhin anschrien und mich beleidigten. Dann begannen sie damit, mich zu stoßen und herumzuschubsen. Und ich begann zurückzuschlagen. Daraufhin begann ein wildes Getümmel, in dem sie mich verhöhnten, anschrien und schlugen. Ich kämpfte wie ein Wilder. Während ich um mich schlug und nach ihnen trat, bissen sie mich und schlugen zurück. Und währenddessen war es ganz offensichtlich, dass sie sich dabei köstlich amüsierten. Obwohl ich in dieser Dunkelheit nichts mehr sehen konnte, war mir doch bewusst, dass jetzt Dutzende oder gar Hunderte von ihnen um mich herum sein mussten. Jeder meiner Versuche mich zu wehren führte nur zu größerer Belustigung auf ihrer Seite. Während des Kampfes wurde mir klar, dass sie es nicht eilig hatten mich zu vernichten. Sie spielten mit mir, so wie eine Katze mit einer Maus spielt. Jeder neue Angriff war von einem Aufheulen grellen Gelächters begleitet. Sie gingen dazu über, Stücke meines Fleisches aus meinem Körper herauszureißen. Zu meinem Entsetzen wurde mir klar, dass ich auf ganz methodische Art auseinandergenommen und lebendig aufgefressen wurde aber so langsam, dass ihr Vergnügen dabei so lange wie irgend möglich dauern würde. In dieser völligen Dunkelheit konnte ich überhaupt nichts mehr erkennen, nahm aber jedes Geräusch und jede physische Berührung mit schrecklicher Intensität wahr.
Diese Kreaturen waren einst Menschen gewesen. Die beste Art, sie zu beschreiben ist, sich den schlimmstmöglichen Menschen vorzustellen, und zwar ohne jeder Spur von Mitleidsfähigkeit. Einige von ihnen schienen dabei anderen Anweisungen geben zu können, aber ich konnte in diesem Durcheinander nicht feststellen, ob irgendeine Organisation dahinter stand. Es schien mir aber nicht so, als ob sie von irgendjemandem kontrolliert oder angewiesen wurden. Sie waren ganz einfach ein wilder Haufen von Wesen, angetrieben von uneingeschränkter Grausamkeit. Es handelt sich bei ihnen nicht um Dämonen, das möchte ich klarstellen, es sind Dunkelheit existierende menschliche Wesen.
In dieser Dunkelheit fühlte ich einen intensiven physischen Kontakt mit ihnen, während sie über mich herfielen. Ihre Körper fühlten sich genauso an wie menschliche Körper, ausgenommen zwei Besonderheiten: sie hatten lange, scharfe Fingernägel und ihre Zähne waren länger als normal. Ich muss dazu sagen, dass ich vor diesem Erlebnis noch nie von einem Menschen gebissen worden bin.
Während unseres Kampfes spürten sie keinen Schmerz. Über das Fehlen von Gefühl hinaus wiesen sie scheinbar keine speziellen Merkmale auf. Während der ersten Phase meines Erlebnisses mit ihnen waren sie noch bekleidet. In der letzten Phase des intimen physischen Kontaktes konnte ich keine Kleidung mehr spüren.
Das Lärmniveau war entsetzlich hoch. Zahllose Menschen lachten, schrien und johlten. Und in der Mitte von diesem ganzen Getümmel war ich als das Objekt ihrer Begierde. Meine Folter war ihr Vergnügen. Je mehr ich kämpfte, desto größer wurde ihre Erregung.
Schließlich fühlte ich mich zu sehr verletzt und gebrochen, um noch weiter Widerstand zu leisten. Die meisten von ihnen gaben daraufhin auf, mich weiter zu foltern, weil es keinen Spaß mehr machte. Einige stießen und nagten noch weiter an mir und verhöhnten mich, weil ich ein Spielverderber sei. Und in diesem zerstörten Zustand lag ich dann da in völliger Dunkelheit.
Ich habe nicht alles beschrieben, was dort passiert ist. Es gibt einige Dinge, an die ich nicht zurückdenken möchte. Tatsächlich ist es so, dass vieles von dem, was mir den widerfahren ist, zu schrecklich und verstörend ist, um es wiederzugeben. Ich habe jahrelang versucht, vieles von dem zu verdrängen. Noch lange nach diesem Erlebnis spürte ich eine tiefe Traumatisierung, wann immer ich mich an die Einzelheiten erinnerte.
Allein
Als ich so auf dem Boden lag und meine Peiniger um mich herumtobten, kam eine Stimme aus meiner Brust. Sie hörte sich wie meine eigene Stimme an, aber es war kein vorsätzlicher Gedanke aus meinem Verstand. Ich sprach es nicht aus. Diese Stimme, die sich also anhörte wie meine eigene, es aber nicht war, sagte: „Bete zu Gott!”
Ich weiß noch, dass ich damals dachte, “Warum? Was für eine bescheuerte Idee. Das funktioniert doch nicht. Was ein Schwachsinn. So wie ich hier in dieser Dunkelheit liege, umgeben von scheußlichen Kreaturen, glaube ich doch nicht an Gott. Die ganze Situation ist absolut hoffnungslos und ich bin jenseits des Punktes, wo mich irgendeine mögliche Hilfe erreichen könnte, unabhängig davon, ob ich an Gott glaube oder nicht. Ich bete nicht – und damit basta.”
Und zum zweiten Mal sprach diese innere Stimme zu mir: „Bete zu Gott!” Wieder hatte ich nichts gesagt und erkannte doch meine eigene Stimme. Beten? Wie? Was? Zu keiner Zeit in meinem gesamten, erwachsenen Leben hatte ich gebetet. Ich wusste gar nicht, wie das geht. Ich wüsste gar nicht, was dafür die richtigen Worte wären, sogar wenn ich beten wollte. Ich kann einfach nicht beten!
Aber die Stimme wiederholte: „Bete zu Gott!” Diesmal war es bestimmter. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Als Kind war beten für mich etwas, das ich die Erwachsenen tun sah. Das war etwas Exotisches und musste anscheinend auf eine gewisse Art und Weise gemacht werden. Doch jetzt versuchte ich auf einmal, mich an Gebete aus meiner Kindheit zu erinnern. Ein Gebet sollte auswendig gelernt werden. Aber an was konnte ich mich nach so langer Zeit noch erinnern? Versuchsweise murmelte ich einige Worte, die ich aus dem 23. Psalm kannte, dann Worte aus der amerikanischen Nationalhymne, dem Vaterunser und schließlich „God bless America!”; schlicht alle kirchlich oder religiös klingenden Sätze, die mir einfielen.
„Obwohl ich durch das Tal wandere, in dem die Schatten des Todes mich bedrohen, fürchte ich mich doch nicht, denn Du bist bei mir. Meine Augen haben die Herrlichkeit gesehen, mit der Du, Gott, erscheinst. Bewahre uns vor dem Bösen. Eine Nation unter Gott. Und Gott segne Amerika.”
Zu meinem größten Erstaunen wurden diese grausamen und erbarmungslosen Wesen, die mir das Leben aus dem Leib rissen, durch mein stotterndes Beten sehr wütend, denn offensichtlich konnten sie es nicht aushalten, wenn ich das Wort Gott erwähnte. Es war, als ob ich kochendes Öl über sie geschüttet hätte. Sie schrien mich an; „Es gibt keinen Gott! Was denkst du bloß, mit wem du sprichst? Niemand kann dich hören! Und jetzt werden wir dir richtig weh tun!”
Sie sagten dies in einer äußerst obszönen Sprache, schlimmer als jede Blasphemie, die man auf Erden aussprechen könnte. Doch gleichzeitig zogen sie sich von mir zurück. Ich konnte ihre Stimmen in dieser absoluten Dunkelheit noch gut hören, aber die Entfernung zu ihnen nahm zu. Ich stellte fest, dass alles, was ich über Gott sagte, sie tatsächlich vertrieb. Und dadurch wurde ich mutiger. „Ja, obwohl ich durch das Tal des Todes schreite, wird Gott euch kriegen. Lasst mich in Ruhe, denn der Herr ist mein Hirte und wir sind eine Nation unter Gott und…“
Im Rückzug wurden sie immer ausfallender, fluchten und schrien gegen Gott. Immer noch riefen sie mir zu, dass all mein Beten absolut wertlos, und ich selbst nur ein Feigling, ein Nichts sei. Mit der Zeit zogen sie sich immer weiter zurück in die ferne Dämmerung, außerhalb meiner Hörweite. Ich wusste, dass sie trotz des Abstands, den sie zu mir hatten, noch zurückkehren konnten.
Dies ist der Teil meiner Erfahrung, der mir immer noch schwer fällt zu erinnern. Denn ich war an diesem scheußlichen Ort völlig allein, völlig zerstört, und doch schmerzhaft lebendig. Ich hatte keine Ahnung, wo ich eigentlich war. Als ich zu Anfang mit diesen Wesen mitgegangen war, da dachte ich ja, wir befänden uns in einem nebeligen Teil des Krankenhauses. Mit der Zeit hatte ich jedoch bemerkt, dass wir irgendwo anders hingegangen waren. Jetzt war ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich überhaupt noch auf unserer Welt war. Denn wie konnte dies wohl unsere bekannte Welt sein?
Ich hatte absolut keinen Anhaltspunkt in welche Richtung ich gehen könnte, selbst wenn ich in der Lage gewesen wäre, davonzukriechen. Die Qualen, die ich während des vergangenen Tages im Krankenahaus durchlebt hatte, waren nichts im Vergleich zu dem, was ich jetzt spürte. Die alles überwältigende physische Qual war jetzt zweitranging im Vergleich zu meinem emotionellen Schmerz. Die psychische Grausamkeit, die diese Wesen mir angetan hatten, war unerträglich.
Ich lag allem in dieser Dunkelheit, eine unmessbar lange Zeit. Ich dachte darüber nach» was mir geschah, womit ich mein Leben verbracht hatte und was dies alles bedeuten mochte. Auf den einfachsten Nenner gebracht, war das Ergebnis meines Grübelns in dieser Zeitspanne, die mir wie Monate, Jahre, ja, eine ganze Ewigkeit vorkam, die Erkenntnis, dass ich mein Leben vergeudet hatte. Ich war kein guter Sohn, kein guter Ehemann, kein guter Vater. Ich war ein mittelmäßiger Hochschullehrer an einer mittelmäßigen Universität. Und – ich hatte in meinem ganzen Leben keine Lebensfreude. Selbstbezogen und manipulativ war ich nur auf meinen eigenen Nutzen bedacht gewesen. Was hatte ich erreicht? Ich hatte einige „Gutwetterfreunde“, aber im Großen und Ganzen kam mir nun mein Leben sehr aufgesetzt vor.
Denn mein ganzes Leben lang war ich der Meinung gewesen, dass harte Arbeit das Einzige war, das zählte. Mein Leben bestand daraus, ein Denkmal für mein eigenes Ego zu errichten. Alles war eine Ausdehnung meines Egos: meine Familie, meine Skulpturen, meine Gemälde, mein Haus, mein Garten, meine Berühmtheit und die Illusion meiner Macht. Alles war grandios und jedes Stück davon hatte ich selbst gebaut. Aber all diese Dinge waren nun vorbei – und welche Bedeutung hatten sie jetzt noch? Alle diese Dinge, für die ich gelebt hatte, waren mir jetzt genommen, und sie bedeuteten nichts mehr.
Während meines ganzen Lebens hatte sich eine Menge Wut in mir angestaut. Wut gegen meinen Vater. Wut über die Ungerechtigkeit dieser Welt. Wut über all die Dinge, die ich nicht kontrollieren konnte und über die ich keine Macht hatte. Wenn diese Wut ausgelöst wurde, verlor ich jegliche Kontrolle. Ich hatte Angst vor meiner Wut, da ich tobte und Dinge zerstörte, wenn sie ausbrach. Ich hatte immer gefürchtet, eines Tages in meiner Wut jemanden zu verletzen. In einem Wutanfall spürte ich tatsächlich häufig den Wunsch, genau das zu tun.
Während meines Erwachsenenlebens fühlte ich mich stark und voller Selbstvertrauen, dass ich mich gut um mich selber kümmern konnte. Nun war ich nichts mehr als ein Wurm, den man in die äußerste Dunkelheit geworfen hatte. Ich hatte weder die Kraft noch die Macht, noch meine innere Wut, um mich selbst zu beschützen. Durch dieses Erlebnis waren mir alle meine Verteidigungsmöglichkeiten genommen worden.
Aber in meinem Leben gab es auch immer eine unterschwellige Angst, eine Furcht, ein Unbehagen, das ich stets bemüht war zu unterdrücken. Meine Einstellung war: Wenn ich es schaffen könnte, berühmt zu werden, dann könnte ich auch Machtlosigkeit überwinden und sogar den Tod. Wenn ich aber keinen Ruhm erlangen könnte, dann würde nach meinem Tod mein ganzes Leben bedeutungslos. Ich lebte also nie in der Gegenwart. Ich hatte mich immer bemüht eine unerreichbare, ewige Berühmtheit zu erlangen als meinen Schutz gegen das Vergessenwerden. Dieser Abgrund an Verzweiflung, in dem ich mich nun befand, bot mir weder Berühmtheit noch Vergessen. Ich war in mir selbst gefangen und auf mich selbst zurück geworfen, und das war Furcht erregend.
Ich hatte mir nie die Zeit für viele Freundschaften genommen. Ich war einfach zu beschäftigt. Um die Wahrheit zu sagen, fand ich die meisten Menschen eine ermüdende Quelle der Langeweile. Ich habe alles getan, was möglich war, um soziale Interaktionen zu vermeiden. In keinem Club und in keiner Organisation war ich Mitglied. Und trotz dieser narzisstischen Erscheinung konnte ich mich selbst nicht leiden, genauso wenig wie ich andere Menschen mochte.
Wie ironisch war es nun, im Abfalleimer, auf der Müllhalde des Universums zu enden mit Wesen, die sich an den Schmerzen anderer vergnügten. Denn diese Wesen, die diese andere Dimension bevölkerten, in die ich nun nach meinem Tod geraten war, waren die Müllmänner und -frauen des .Universums und sie nahmen mich mit auf ihre Abfallhalde, in diese Sickergrube, in der ich ür alle Ewigkeit mit meinesgleichen leben würde. Und das war richtig so, das war gerecht, das war angemessen und ich hatte keinen Grund, mich darüber zu beklagen, denn ich gehörte zu ihnen. Sie waren Seelenverwandte. Die Wahrheit tat mir weh, denn sie alle hatten selbstbezogen und egoistisch gelebt, arrogant und manipulativ und ihr ganzes Leben lang hatten sie sich nie um einen anderen Menschen so gekümmert wie um sich selbst. Uber Gott, ein höheres Wesen oder eine höhere Macht hatten sie nie nachgedacht, denn ihr einziges Bestreben war die Verehrung ihres Ego – und darin waren sie und ich wesensverwandt.
Denn auch ich hatte doch so wenig aufrichtiges Mitleid für andere empfunden. Mir dämmerte, dass ich diesen elenden Kreaturen, die mich gefoltert hatten, gar nicht so unähnlich war. Durch ihr Versagen, aufrichtig zu lieben, sind sie in diese äußerste Dunkelheit geraten, wo ihr einziges Verlangen darin besteht, ihr eigenes inneres Unglück auf andere zu übertragen. Ohne jede Liebe, jede Hoffnung und jeden Glauben sehnten sie sich zwar nach Intimität, nur um herauszufinden, dass diese nur noch mehr Qualen hervorrief. Jede Erwähnung Gottes, den sie so sehr ablehnten, machte sie wütend. Diese entwurzelten Menschen mögen in der Welt erfolgreich gewesen sein, hatten aber das Wichtigste von Allem versäumt – und jetzt ernteten sie, was sie gesät hatten.
Mein ganzes Leben erschien mir jetzt bedeutungslos… „Wenn man schon in eine Welt geboren wird, in der der Kampf jedes gegen jeden normal ist, kann man dabei besser auf der Gewinner- als auf der Verliererseite stehen.“ Alle Menschen, die ich kannte, waren auf diese Weise auf sich selbst bezogen. „Anstatt mich in Anstrengungen zu verlieren, kümmere ich mich doch lieber um die guten Seiten des Lebens.“ Was war schon falsch daran, ehrgeizig zu sein? Jeder, der das Leben nicht realistisch und pragmatisch anging (so wie ich), baute doch Luftschlösser.
Das Leben als Künstler eröffnete mir die Möglichkeit, das zu bekommen, was ich mir wünschte. Als Künstler kommst du zu ewigem Ruhm. Sie stellen deine Arbeiten in Marmortempeln aus und verehren sie tausende von Jahren lang. Und ich wollte hunderttausende Jahre lang berühmt sein. Die Menschen sollten Bücher über mich lesen und sagen: „Howard Storm, war ein großer Künstler!”
Religiöse Menschen machten sich nur selbst etwas vor. Ich betrachtete sie mit Verachtung. Meiner Meinung nach glaubten sie an Märchen, da sie mit den harten Realitäten des Lebens nicht fertig werden und mithalten konnten. Also investierten sie in Phantasie, um eine Rechtfertigung für ihre Mittelmäßigkeit zu finden. Wenn sie dieses Mittel brauchen, um sich gut zu fühlen, dann sollten sie sich also darin suhlen. Ich jedoch schwamm im Mainstream meiner Kultur. Ich hatte keinen Glauben, keine Hoffnung und kein Vertrauen in irgend jemanden – ich glaubte an das Überleben des Stärkeren. Meine Kollegen von der Universität (die wenigen, mit denen ich überhaupt verkehrte) und ich teilten diese Meinung über das Leben. Ich befand mich in guter Gesellschaft. Der Mensch war das Maß aller Dinge. Wir wussten, was Wirklichkeit war, und was nicht. Wenn irgendwelche Studenten oder Kollegen anderer Meinung sein sollten, dann sprachen sie nicht mit mir darüber. Sie alle erkannten zu Recht in mir den eingefleischten Zyniker.
Ich hatte die Kontrolle und die Macht über mein Leben. Dabei glaubte ich sehr wohl, ein rechtschaffener und gesetzestreuer Bürger zu sein und war der Meinung, dass man unbedingt versuchen solle, Gesetzesübertretungen zu vermeiden. Ich raubte keine Banken aus und hatte auch niemanden ermordet. Ich lebte mit den Gesetzen dieses Landes und gehorchte den ungeschriebenen Spielregeln des zivilisierten Lebens. War das nicht genug, um als guter Mensch zu gelten? Der überzeugte Individualismus, den ich von meinem Vater, durch meine Schule und meine amerikanische Kultur gelernt hatte, war meine Religion. Warum sollte ich es nötig haben, an eine höhere Macht zu glauben? Wer würde schon die Bedürfnisse anderer über die eigenen stellen? Vertraue niemandem. Leben bedeutet: Jeder ist für sich selbst verantwortlich.
Das ist die wahre Philosophie der Vereinigten Staaten von Amerika. Nimm, was du kriegen kannst, lebe für dein Vergnügen, aber riskiere nicht, dafür ins Gefängnis zu kommen. Es ist meine feste Überzeugung, dass viele Menschen in unserer Gesellschaft, wenn nicht sogar die meisten, nach diesen Grundeinstellungen leben. Dies ist keine gottesfürchtige Gesellschaft, noch ist sie eine christliche Gesellschaft, auch wenn man diesen Begriff noch so sehr dehnt. Diese Gesellschaft ist im Grunde durch und durch hedonistisch, eine Spaßgesellschaft, die nur das Vergnügen und die Unterhaltung sucht und deren Philosophie der reine und pure Materialismus ist. Dazu gehörte ich auch. Diese Einstellungen wurden Tag für Tag durch die herrschende Kultur und den Zeitgeist in jeder Weise verstärkt: durch die Medien, TV, die Bücher, die ich las, ja auch durch die Fakultätsmitglieder, mit denen ich verkehrte und durch die Studenten, die ich beeinflussen konnte.
Derjenige, der mit den meisten Spielzeugen stirbt, hat gewonnen. Mitleid ist nur für die Schwachen. Wenn du dich nicht um dich selbst kümmerst, dann wird es bestimmt auch kein anderer tun. Ich dachte, ich wäre der größte und der gefährlichste Bär im ganzen Wald. War ich nicht gut genug?
Ich glaubte nicht an ein Leben nach dem Tod. Wenn du stirbst, ist es so, als ob jemand dir den Lebensschalter umlegt. Und das war`s dann – das Ende deiner Existenz, finito – und dann nur noch Dunkelheit.
Nun war ich tatsächlich in der Dunkelheit jenseits des Lebens, und es war die reine Hölle. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich am absoluten Ende meiner Existenz in dieser Welt stand. Es war schrecklicher als alles, was ich mir je hätte vorstellen können.
Das Licht
Es wäre viel besser gewesen, im Krankenhaus zu sterben, als auf dieser schrecklichen Müllhalde zu enden. Ich fühlte mich wie ein Streichholz, das abgebrannt ist und dessen Asche sich nun langsam im Nichts verliert. Ich hatte nur noch wenig Kraft übrig, um dem Drang zu widerstehen, ebenfalls zu einer Kreatur zu werden, die in der äußersten Dunkelheit mit den Zähnen knirscht. Ich war nicht weit davon entfernt, für alle Ewigkeit genauso zu werden wie meine Peiniger.
Als ich dort lag, innen wie außen völlig zerrissen, da wusste ich, dass ich verloren war. Nie wieder würde ich die Welt sehen. Ich war auf dem Weg, eine Kreatur der Dunkelheit zu werden – und völlig allein.
Plötzlich erinnerte ich mich vage an ein Lied aus meiner Kindheit, an das ich in meinem ganzen erwachsenen Leben nicht mehr gedacht hatte. Ich erinnerte mich an meine Kinderstimme, in der ich ein- und dieselbe Strophe immer und immer wieder sang. Dieses Kind, das ich einmal war, sang dieses Lied voller Unschuld, voll Vertrauen und Hoffnung: “Jesus liebt mich, da da da…” Von dem ganzen Lied erinnerte ich mich also nur an die Melodie und diese paar Worte. Als Kind hatten wir dieses Lied während des Religionsunterrichts nach dem Gottesdienst gesungen.
Irgendwo dort draußen in dieser ungeheuren Dunkelheit könnte vielleicht doch noch etwas Gutes zu finden sein. Da ist vielleicht doch jemand, der mich liebt. Ich hatte in diesem Moment kein Interesse an theologischen Überlegungen, was die Worte dieses Liedes bedeuten mochten. Es war nicht mehr als eine spontane Erinnerung jener Sonntagsschultage, die damals zu einem kirchlichen Leben in den USA dazu gehörten. Jesus liebt mich. Jesus liebt mich. Jesus liebt mich.
Jetzt brauchte ich wirklich dringend jemanden, der mich liebt, jemand, der weiß, dass es mich gibt und dass ich lebe. Ein vager Hoffnungsschimmer erwachte in mir, der Beginn eines Glaubens, dass es vielleicht doch etwas Größeres da draußen gab. Das erste Mal in meinem erwachsenen Leben spürte ich das Verlangen, dass es doch wahr sein möge, dass Jesus mich liebt. Ich wusste immer noch nicht, wie ich das ausdrücken sollte, was ich doch so dringend wollte und brauchte, aber unter Aufbietung der letzten Kraftreserven schrie ich es jetzt hinaus in diese Dunkelheit: „Jesus, rette mich!” Diese Worte stieß ich heraus aus dem tiefsten Innern meines Seins und mit aller Energie, die mir noch zur Verfügung stand. Und nie in meinem ganzen Leben war es mir mit etwas so ernst gewesen wie mit diesem Wunsch. Von ganz ferne sah ich in dieser Dunkelheit auf einmal ein winziges Lichtpünktchen, so wie der schwächste Stern am Nachthimmel. Ich wunderte mich nur, warum er mir nicht schon vorher aufgefallen war. Aber dieser kleine Stern wurde auf einmal heller und heller. Zuerst dachte ich, dass es sich dabei um irgendein Ding handeln würde, aber das Licht hatte etwas Persönliches. Es bewegte sich jetzt mit einer alarmierenden Geschwindigkeit auf mich zu. Als es sich mir immer weiter näherte, merkte ich auf einmal, dass es genau auf mich zukam und ich von seiner gleißenden Helligkeit getroffen werden könnte. Ich konnte meine Augen nicht mehr von diesem Licht nehmen, denn das Licht war intensiver und schöner als alles, was ich je gesehen hatte. Es war heller als die Sonne, heller als ein Blitz. Und schon hatte es mich erreicht und eingehüllt. Und da wurde mir klar, dass diese unbeschreibliche Helligkeit nicht nur eine Lichterscheinung war. Dies war ein Lebewesen, ein Lichtwesen, ungefähr 2,5 Meter groß, und umgeben von einem ovalen Strahlenkranz. Diese extreme Lichtintensität durchdrang meinen ganzen Körper. Meine Qual wurde hinweggeschwemmt und durch ein Gefühl der Ekstase ersetzt. Fühlbare Hände und Arme umfassten mich und hoben mich sanft auf. So erhob ich mich langsam vor der Präsenz dieses Lichtes und all die verwundeten Teile meines Körpers heilten auf wundersame Weise vor meinen Augen. Alle mir zugefügten Verletzungen verschwanden und ich wurde heil in diesem Licht. Aber wichtiger noch war, dass meine Verzweiflung und mein Schmerz durch ein nie gekanntes Gefühl von Liebe ersetzt wurden. Ich war verloren gewesen, und nun hatte man mich gefunden; ich war tot und gestorben, und jetzt wieder lebendig. Dieses liebevolle und strahlende Wesen, das mich umarmt hielt, vermittelte mir den Eindruck, dass es alles über mich wusste und mich genau kannte. Sogar besser, als ich mich selber kannte. Das Lichtwesen war Wissen und Weisheit. Und mir wurde klar, dass ihm einfach alles über mich bekannt war. Und trotzdem bedingungslos akzeptiert und geliebt. Jesus liebt mich also tatsächlich, dachte ich, und er musste also der König der Könige, der Herr der Herren, Christus Jesus der Erlöser sein, Ich erfuhr Liebe in solcher Intensität, dass sie mit nichts vergleich- bar war, was ich je zuvor erlebt hatte. Größer und umfassender als alle menschliche Liebe zusammen genommen. Seine Liebe hüllte mich völlig ein. Dabei bemerkte ich, dass dieses Wesen auch Substanz hatte. Er war unbeschreiblich und wunderbar in seiner Ausstrahlung: Er war das absolut Gute, Macht, Wissen und Liebe. Jesus liebte mich tatsächlich. Nach dem, was ich gerade durchgemacht hatte, übertraf dieses Erlebnis, jetzt so gänzlich durchschaut und gleichzeitig akzeptiert und intensiv durch diesen wunderbaren Gott/ dieses Lichtwesen geliebt zu werden, alles, was ich je erlebt hatte oder mir hätte vorstellen können. Ich hatte in meiner Not zu Jesus um Hilfe gerufen und er war tatsächlich gekommen, um mich zu retten. Ich weinte und weinte vor Freude und die Tränen strömten unaufhörlich. Gleichzeitig fühlte ich mich durchdrungen von Freudenschauern. Er hielt mich weiter in seinen Lichtarmen und tröstete mich liebevoll wie eine Mutter ihr Baby, wie ein Vater seinen lange verlorenen Sohn. Ich weinte alle die Tränen, die sich in einer Lebenszeit voller Hoffnungslosigkeit aufgestaut hatten, verstärkt durch das Gefühl, dass ich mich für meinen Unglauben schämte. Jetzt weinte ich Freudentränen über meine Rettung.
Während er mich an sich drückte, spürte ich, wie er beruhigend über meinen Rücken streichelte. Dabei bewegten wir uns, zuerst langsam, aber dann immer schneller und schließlich wie eine Rakete aufwärts aus dieser dunklen und scheußlichen Hölle hinaus. Wir durchquerten eine enorme Distanz, Lichtjahre, obwohl nur wenig Zeit zu vergehen schien. Ich versuchte dabei, meine Haltung wieder zu finden, denn ich fand es peinlich, dass ich die ganze Zeit weinen musste. Ich versuchte also meine tränenden Augen und meine triefende Nase zurückzuhalten. Ich drehte mich um und schaute in die Richtung, in die wir uns bewegten.
Mit freundlicher Genehmigung von Joachim Duderstadt (Santiago Verlag) abgedruckt aus „Howard Storm. Mein Abstieg in den Tod …und die Botschaft der Liebe, die mich von dort zurückbrachte. Santiago Verlag, 2008.“ S. 26-33.