„Im Alter von 20 Jahren erfuhr ich dank eines Autounfalls völlig überraschend  das Gipfelerlebnis meines Lebens. An einem Juni-Abend, als bereits die Dunkelheit hereingebrochen war, war ich mit meinem Vater in seinem Auto unterwegs nach Hause. Gerade war er auf den Vorplatz einer Tankstelle in der Nähe von Brütten eingebogen, um zu tanken, als ein Auto wegen einer kurzen Verwirrung des Lenkers mit hoher Geschwindigkeit seitlich in unser stehendes Auto hineinkrachte. Durch den Aufprall wurde unser Wagen über einen Eisenzaun hinweg in einen Garten katapultiert. Das andere Auto wurde 300 m weit in eine Wiese geschleudert, die drei jungen Insassen – Mitglieder eines Racing Clubs – kamen bis auf einen Beinbruch glimpflich davon. Bei der Kollision verlor ich sofort das Bewusstsein – und wachte dann auf einer völlig anderen, viel „höheren“ Bewusstseinsebene wieder auf. „Ich sterbe – ist das möglich? Ich bin ja am Sterben!“ durchfuhr es mich. Mit höchstem Erstaunen registrierte ich ein durchdringendes, feierliches Gefühl der Todesnähe, ohne zu wissen, warum ich in diese unerwartete Situation hineingeraten war. Immerhin erinnerte ich mich, dass ich eben noch im Auto meines Vaters gesessen war und er gesagt hatte, er werde jetzt noch tanken. So konnte ich mir zusammenreimen, dass inzwischen wohl ein Unfall passiert war, der den Prozess des Sterbens ausgelöst hatte. Es verblüffte mich nur einfach, dass ich am Sterben war! Sterben taten doch immer nur die andern! In meinem damals noch jungen Alter hatte ich noch nicht wirklich damit gerechnet, dass der Tod einmal auch mich treffen könnte…

Schon bald erschien mir aber der äussere Anlass meiner eigenartigen Bewusstseinslage unwichtig, da ich in einen überwältigenden Prozess geriet.

Ich hatte das Gefühl, als würde ich mich von meinem Körper und meiner „irdischen Welt“ lösen, als ob Faser um Faser, mit denen ich an Menschen und Dingen gehangen hatte, einzeln durchschnitten würde. Einen Moment lang erfüllte mich diese Trennung mit Wehmut. Schliesslich schien mir, als hänge mein Leben nur noch an einem letzten Fädchen, und dieser Faden wurde dünner und dünner… Ein dunkler, funkensprühender Wirbel tat sich auf. Ich geriet in einen starken Sog, der mich wie in einem hochgehenden Fluss mitriss. (In vielen alten Vorstellungen, Mythologien und Bildern wird das Sterben tatsächlich mit einem Fluss assoziiert, den man überqueren müsse…) Der Sog zog mich durch einen engen, dunklen Tunnel, in dem ich dröhnende metallische Geräusche vernahm, von ferne mit Glocken vergleichbar, aber disharmonisch.

Kaum war ich auf der anderen Seite des Tunnels, fühlte ich mich frei und leicht. Von oben sah ich in einem nächtlichen Erdbeerbeet meinen leblosen Körper liegen – es war eindeutig mein Körper, denn er hatte das grüne Deux-Pièces an, das meine Mutter genäht hatte – ein Unikat. Aber eigentlich interessierte er mich gar nicht mehr besonders. Als ich den Schrecken und die Hektik der herbeieilenden Menschen spürte, war ich froh, einfach wegschweben zu können.

In einer blitzschnellen Rückschau zog nun mein ganzes Leben wie ein plastisches, farbiges Panorama – wie eine Art dreidimensionaler Film – nochmals an mir vorbei. Alles, was ich je gedacht, gefühlt und erlebt hatte, erfasste ich sozusagen mit einem Blick. Selbst längst vergessene Bilder, Gerüche und Töne aus der frühesten Kindheit tauchten wieder auf, wobei das Schwergewicht auf glücklichen Momenten lag. Es war ungemein faszinierend, das Leben nochmals wie im Zeitraffer zu durcheilen und es dabei auch zu durchschauen. Auf einmal gingen mir innere Zusammenhänge auf, die mir verborgen gewesen waren, solange ich mittendrin im Leben mitgestrampelt hatte. Mit einer Klarsicht, die man im Diesseits gewöhnlich nicht hat, verstand ich jetzt alles, und alles hatte einen Sinn. Es war, wie wenn man endlich die Vorderseite eines Webbildes zu sehen bekäme: Ein schönes Muster – nachdem man bisher nur die Rückseite gekannt hatte: Wirre Fäden, die sich oft nicht einordnen liessen…  Wie von selbst bewertete ich das Leben und erkannte, dass es auf den innersten Kern der Motive ankommt, die unser Handeln (oder auch Nicht-Handeln) steuern. Positive oder negative Haltungen und Gefühle wirken wie Wellen weiter und können Freude oder Leid bei andern auslösen. Es schien mir, als könne ich auch in die Rolle der Menschen um mich schlüpfen und die Empfindungen nachfühlen, die ich ihn ihnen bewirkt hatte. Ich spürte, wie eng wir mit unserer Mitwelt verflochten sind, mit den Menschen, Tieren, Pflanzen, der Natur, dem Kosmos – wir schwingen als ein Teil des Ganzen mit dem Universum mit, alles ist mit allem verbunden. Mir wurde klar, dass das, was zählt, letztlich die Liebe ist – die Liebe ist der Urgrund und das tragende Wurzelgeflecht des Lebens und des Seins, die ungeheure Kraft, die das ganze Universum zusammenhält! Beim Lebensrückblick taten mir Episoden der Lieblosigkeit leid, aber insgesamt war dieses Erkennen des eigenen Lebens kein peinvolles „Selbstgericht“, sondern eingebettet in ein umfassendes, verzeihendes Verstehen alles Menschlichen, das nie ganz vollkommen ist.

Auf die packende Vision meines Lebens folgte ein Gefühl der Erleichterung, dass das irdische Leben offenbar schon vorbei war. Obwohl ich eine recht glückliche Jugend gehabt hatte, bedauerte ich das abrupte Ende nun keineswegs, sondern empfand es als Privileg, den Lebenskampf schon so jung eintauschen zu können gegen dieses faszinierende neue Dasein!

Ich bemerkte nun helle Gestalten, die unbeschreiblich gelöst, heiter und harmonisch wirkten. Sie näherten sich mir, als wollten sie mich im Jenseits herzlich willkommen heissen. Welch freudiges Wiedersehen, als ich unter ihnen vertraute Bekannte und Verwandte erkannte! Erst im Nachhinein realisierte ich, dass es lauter bereits verstorbene Menschen waren. Allen voran kam strahlend meine geliebte Grossmutter. Sie wirkte jung, gesund und sehr glücklich, und wie in einem Pingpong-Spiel konnten wir einander ohne Worte unsere Gedanken zuspielen. Ein halbes Jahr zuvor war sie nach schwerer Krankheit, von meiner Mutter gepflegt, in unserem Elternhaus gestorben. Ihr Leiden und ihr Ende hatten mich sehr bedrückt und in mir Trauer und eine dumpfe Angst vor dem so undurchsichtigen, unheimlichen Tod ausgelöst. Wie froh war ich jetzt, zu sehen, wie gut es ihr ging! Alles kam mir wieder in den Sinn, was ich bisher über den Tod gehört, gelesen oder gedacht hatte – und nun war er so völlig anders und so viel schöner, als ich es ich es mir je vorgestellt hatte! (Damals – 1968 – gab es noch keine Literatur über Nahtoderfahrungen, dieses Thema war noch völlig unbekannt, ich hatte noch nie etwas davon gehört.)

In einem dynamischen Prozess erweiterte sich mein Bewusstsein fortwährend. Von den Fesseln des Leibes und des Lebens losgelöst, vermochte sich mein Geist zu ungeahnten Fähigkeiten aufzuschwingen. Ungeheuer schnell liefen in mir viele verschiedene Gedankengänge gleichzeitig ab, jeder von gestochen scharfer Genauigkeit, Klarheit und Tiefe. Tausend Fragen tauchten auf, die unmittelbar eine Antwort erhielten. Wie sieht ein Atom aus, wie der Andromeda-Nebel, wie Australien, und wie sah es hier zur Zeit der alten Römer aus? Es gab keinerlei räumliche und zeitliche Schranken mehr, wie ein Zoom konnte ich überall dort sein, wo meine Gedanken gerade hingingen. Mit einer fast grenzenlosen Erkenntniskraft konnte ich in diesem Moment den Mikrokosmos und den Makrokosmos durchdringen. Unermessliche Schätze des Wissens und der Erkenntnis taten sich auf, die Rätsel des Universums begannen sich zu lösen!  (Leider konnte ich die Inhalte jenes tiefen Wissens nicht ins diesseitige Leben mitnehmen…) Gleichzeitig mit dem Denken steigerte sich auch die Intensität meiner Empfindungen. Immer stärker durchfluteten mich Gefühle der Liebe, der Harmonie und des höchsten Glücks.

Das alles waren Begleiterscheinungen eines noch viel überwältigenderen Vorgangs. Noch immer befand ich mich in dem starken Sog, der mich am Anfang schon durch den Tunnel gezogen hatte. Das Ziel dieses Flusses – das sah ich nun – war ein gewaltiges, lebendiges, gleissendes weisses Licht. Wunderschön war es und grösser als die Sonne, aber es tat nicht weh, in seine strahlende Helligkeit tat zu schauen. Es pulsierte förmlich vor Energie, Kreativität – und Liebe! Mit einer brennenden Sehnsucht zog es mich unwiderstehlich zu diesem glanzvollen, herrlichen Licht, das eine unvorstellbare, bedingungslose persönliche Liebe verströmte. Dieses atemberaubende, vibrierende Licht war der Inbegriff des Absoluten, des Guten, des Heiligen, des Wissens, der Weisheit, des Glücks… Es waren unbeschreibliche Momente von höchster Intensität, innerlich stand ich in Flammen, in einer glutvollen Ekstase, und wollte nur noch eines: Eintauchen in diese mystische, leuchtende Sonne der Liebe! Schnell glitt ich auf eine Art Grenze zu, hinter der ich die Erfüllung erahnte.

Doch unmittelbar vor der Grenze stockte plötzlich der Fluss des Geschehens. In mein Bewusstsein drang ein störendes Wort, auf das zu reagieren ich ein Leben lang trainiert worden war – mein Name! Inzwischen hatten sich beim Unfallort erste Helfer eingefunden, die mich aus dem zerstörten Auto gezogen,  in ein Erdbeerbeet gelegt und für tot erklärt hatten. Offenbar stand mein Kreislauf still – kein Puls und keine Atmung mehr, dazu eine fahle, totenähnliche Blässe. Schockiert und in höchster Panik rief mich mein Vater, der weitgehend unverletzt geblieben war, verzweifelt immer wieder beim Namen. Dieses drängende Rufen hörte ich.

Verblüfft wurde ich mir plötzlich wieder meines Namens, meiner irdischen Identität und meines Vaters bewusst. Warum liess er mich nicht ziehen? Ich war doch schon so weit weg und wollte nicht mehr in die enge, beschränkte irdische Existenz zurückkehren. Allerdings – war es nicht vielleicht feige, wenn ich mich schon jetzt aus der Mühsal des Lebens davonstahl? Meine Familie wusste ja gar nicht, wie schön es „drüben“ war. Angestrengt versuchte ich, mit meinem Vater in Kontakt zu treten und ihm das zu sagen, aber es gelang nicht, zwischen uns gab es eine undurchdringliche Wand. Da geriet ich in ein Dilemma. Einerseits sehnte ich mich mächtig danach, noch tiefer in die verheissungsvollen, leuchtenden Sphären des Jenseits einzudringen. Andererseits stellte ich mir schon plastisch meine Beerdigung und die wohl unvermeidliche Trauer meiner Angehörigen vor, wenn ich nicht mehr zurückkehren sollte. Nein – das wollte ich ihnen wenn möglich ersparen! Wenigstens den Versuch einer Rückkehr wollte ich wagen. Früher oder später, so tröstete ich mich, würde ich ja ohnehin wieder den Weg zum Licht antreten…

Mit der ganzen Kraft meiner ohnehin geballten geistigen Anspannung stemmte ich mich nun gegen den Sog, der mich ins Jenseits zog. Es war wie ein Schwimmen gegen einen reissenden Strom. Einen Moment lang befand ich mich auf dem alles entscheidenden, kritischen Scheitelpunkt – aber dann fiel ich zurück auf die andere Seite, zurück ins diesseitige Leben – und war zunächst sehr enttäuscht. Das strahlende Licht, die lebendig vibrierende Sonne erlosch langsam, die innere Glut der Gefühle verebbte, und meine eben noch so luziden Gedankengänge verwirrten sich immer mehr. So fiel ich aus einem jauchzenden, höchsten Glück hinab,  hinab in eine dumpfe Schattenhaftigkeit. Ein Ruck – und ich fühlte mich plötzlich wieder in meinem Körper, den ich als schwer, schmerzend und viel zu eng empfand. Verdutzt stellte ich fest, wie wenig unser seelisches, geistiges Potential im normalen irdischen Leben ausgeschöpft wird. Dieser stumpfe, platte, dämmrige Zustand, in dem ich mich nun wieder befand, war also unsere gewöhnliche, alltägliche Existenzweise!

Auf diesen ersten Schreck hin floh ich nochmals in eine milde Bewusstlosigkeit. Als ich daraus erwachte, befand ich mich in einem schaukelnden Gefährt. Ein weissgekleideter Mann tat freundlich seine Pflicht, sah, dass ich mich wieder regte, und fragte: „Wie heissen Sie? In welcher Krankenkasse sind Sie?“

In den folgenden Wochen im Spital war ich, obwohl die äusseren Umstände nicht unbedingt dazu angetan waren, äusserst fröhlich und vergnügt. Die erste Enttäuschung über das Zurückkommen war im Nu überwunden. Zwar empfand ich oft noch ein Heimweh nach „drüben“, freute mich nun aber riesig über dieses geschenkte zweite Leben – diesmal ein Leben ohne Angst vor dem Tod. Erst jetzt erfasste ich, welch ungeheures Geschenk das Leben ist! Und nachdem schon das Präludium so verheissungsvoll und schön war, erwarte ich nach dem Leben ein ganz wunderbares Konzert…!

Übrigens scheute ich mich jahrelang davor, diese Erfahrung anderen zu erzählen, da ich sie für zu persönlich hielt und fürchtete, sie könnte auf Unverständnis stossen. Sofort schrieb ich sie aber noch im Spital aus der frischesten Erinnerung heraus in einem Heft auf. Sieben Jahre später fiel mir das Buch von Raymond A. Moody „Leben nach dem Leben“ unmittelbar nach dessen Erscheinen in die Hände. Es wühlte mich auf, da mir nun klar wurde, dass meine Erfahrung einen Namen hatte nicht nur ein rein individuelles Erlebnis gewesen war, sondern dass ich es mit unzähligen anderen Menschen teile. Offenbar entspricht es der allgemeinen menschlichen Struktur. Deshalb kann ich es jetzt erzählen, umso mehr, als in den letzten Jahren die Tabuisierung des Todes merklich abgenommen hat.“

Magdalen Bless-Grabher