Der Er-Mythos. Das Schicksal der Seelen im Jenseits.

Gekürzte Version aus Platons Dialoge, Politeia 613e – 621d

[…] Ich will dir aber keine Erzählung des Alkinoos mitteilen, sondern von einem gestandenen Mann, nämlich ER, dem Sohn des Armenios, der Abstammung nach ein Pamphylier; dieser war einst im Krieg gefallen, und als die Toten  nach zehn Tagen schon verwest aufgenommen wurden, wurde er unversehrt aufgenommen und nach Hause gebracht, um bestattet zu werden. Als er aber am zwölften Tag auf dem Scheiterhaufen lag, lebte er wieder auf und berichtete sodann, was er dort gesehen hatte. Er sagte aber, seine Seele sei, nachdem  sie ihn verlassen hatte, mit vielen andern dahingezogen  und sie wären an einen wunderbaren Ort gekommen, wo in der Erde zwei aneinandergrenzende Spalten gewesen und am Himmel gleichfalls zwei andere ihnen gegenüber.

Zwischen diesen hätten Richter gesessen, die nach ihrem Urteil den Gerechten befohlen hätten, nach rechts oben durch den Himmel wegzugehen, nachdem sie ihnen vorn Zeichen für das, wofür sie gerichtet worden waren, umgehängt hatten, den Ungerechten aber nach links unten; und auch diese hätten hinten Zeichen für all ihre Taten gehabt.

Als nun auch er hingekommen war, hätten sie ihm gesagt, er müsse den Menschen ein Verkünder des Dortigen sein, und hätten ihm geboten, alles an diesem Orte zu hören und zu schauen. Er habe nun dort gesehen, wie durch je einen Spalt im Himmel und in der Erde die Seelen nach ihrer Aburteilung weggegangen seien, durch die andern beiden aber seien aus der Erde Seelen voller Schmutz und Staub aufgestiegen, aus dem anderen  hingegen seien andere rein aus dem Himmel herabgestiegen. Die jeweils ankommenden schienen, wie von einer langen Reise, gern auf die Wiese zu kommen, sich wie zu einer Festversammlung zu lagern, sich einander zu begrüßen, soweit sie sich kannten, und zu befragen: die aus der Erde kamen, die andern nach dem dort, und die aus dem Himmel nach dem bei jenen. Und so hätten sie einander erzählt, die einen jammernd und weinend, indem sie  daran dachten, wie viel Schlimmes sie erlitten und gesehen hatten auf ihrer unterirdischen Reise; die Reise aber dauere tausend Jahre. Die aus dem Himmel hingegen hätten von ihrem Glück erzählt und einem unvorstellbar schönen Anblick.

Das meiste nun, Glaukon, zu erzählen kostete viel Zeit; die Hauptsache aber sei, sagte er, dass jeder für alles Unrecht, das er jemals – gleich wie vielen – angetan, einzeln gebüßt hat, zehnfach für jedes, nämlich immer wieder nach hundert Jahren, denn so lange sei das menschliche Leben, damit sie so zehnfach für das Unrecht büßten. So mussten einige, wenn sie vielfältigen Todes schuldig waren, weil sie Städte oder Heere verraten und in die Knechtschaft gestürzt oder sonst großes Elend mitverschuldet hatten, für jedes davon zehnfache Pein erdulden; hatten sie sich aber wiederum wohltätig gezeigt und gerecht und heilig, so empfingen sie auch dafür nach demselben Maßstabe den gerechten Lohn. Über die aber, die nach ihrer Geburt nur kurz leben, sagte er anderes, das hier nicht zu erwähnen lohnt.

 Für Frevel aber und Frömmigkeit gegen Götter und Eltern und für eigenhändigen Mord gebe es noch größeren Lohn. Denn er sei dazugekommen, als einer einen anderen fragte, wo denn Ardiaios der Große sei. Dieser Ardiaios war nämlich in einer Pamphylischen Stadt vor damals schon tausend Jahren Tyrann geworden, nachdem er seinen betagten Vater und älteren Bruder getötet und, wie man sich erzählte, viel anderen Frevel verübt hatte. Er habe auf die Frage gesagt: „Er ist nicht da und wird wohl auch nicht herkommen.“ 

Denn es bot sich uns auch folgender schreckliche Anblick: Als wir alles sonst erlitten hatten und nahe am Ausgang hinaufsteigen wollten, sahen wir plötzlich jenen (Ardiaios) mit anderen, von denen die meisten auch Tyrannen waren, nur einige waren Privatleute mit schweren Verbrechen. Sie glaubten zwar, jetzt hinauszukommen, aber der Ausgang nahm sie nicht auf, sondern brüllte, sooft einer von diesen unheilbaren Schurken oder einer, der noch nicht genug gebüßt hatte, versuchte, hinauszugehen. Und gleich waren auch, sagte er, wilde Männer zur Stelle, ganz feurig anzusehen, die auf das Gebrüll achteten und sie ergriffen und wegführten; dem Ardiaios aber und anderen banden sie Hände, Füße und Kopf zusammen, warfen sie nieder, gerbten ihnen das Fell, zogen sie vom Weg fort und jagten sie in die Dornen. Den jeweils Vorbeigehenden bedeuteten sie, weshalb sie abgeführt und dass sie in den Tartaros geworfen würden. Und so sei denn, sagte er, unter dem vielen, was sie zu fürchten hätten, diese Furcht die schlimmste gewesen für jeden, dass er, wenn er hinaufsteigen wolle, angebrüllt werde, und mit größter Zufriedenheit seien sie hinaufgestiegen, wenn es still blieb.  So  also seien die Bußen und Strafen, und ihnen entsprächen andererseits die Belohnungen.  

 […] Als sie nun ankamen, hätten sie sogleich zur Lachesis gehen müssen. Ein Prophet aber habe sie zuerst der Ordnung nach aufgestellt, dann aus der Lachesis Schoß Lose genommen und Lebensmuster; dann sei er auf eine hohe Bühne gestiegen und habe gesagt:

„Dies ist der Tochter der Notwendigkeit, der jungfräulichen Lachesis, Rede. Eintagsseelen! Ein weiterer todbringender Umlauf beginnt für das sterbliche Geschlecht. Nicht euch wird der Dämon erlosen, sondern ihr werdet den Dämon wählen. Wer aber zuerst gelost hat, wähle zuerst die Lebensbahn, der er dann notwendig verbunden bleibt. Die Tugend ist herrenlos. Jeder wird, je nachdem er sie mehr oder weniger achtet oder missachtet, auch mehr oder weniger von ihr haben. Die Schuld liegt beim Wählenden; Gott ist schuldlos.“

Nach diesen Worten habe er die Lose unter alle geworfen; jeder habe das ihm zufallende aufgehoben, nur er nicht, ihn habe er nicht gelassen. Wer es nun aufhob, wusste, die wievielte Stelle er erlost hatte. Gleich danach habe er die Lebensmuster vor sie auf die Erde gelegt, viel mehr als anwesend waren. Es seien vielerlei gewesen, die Lebensformen aller Tiere nämlich und alle menschlichen. Darunter seien Gewaltherrschaften gewesen, einige anhaltend, andere scheiterten mitten drin und endeten in Armut, Verbannung und Not. Auch die Lebensform von Männern, die teils wegen ihres Aussehens angesehen waren, ihrer Schönheit wegen oder sonst wegen körperlicher Stärke und Kampfbereitschaft, teils ihrer Abkunft und der Leistungen ihrer Vorfahren wegen; auch von Männern, die entsprechend unberühmt waren, ebenso auch von Frauen.  

 […] Damals habe nun, wie der Bote von dort berichtete, der Prophet auch folgendes gesagt: „Auch wer als letzter herantritt, findet, wenn er mit Verstand wählt und beständig lebt, ein liebenswertes Leben vor, kein schlechtes. Wer die Wahl beginnt, sei nicht sorglos, wer sie beschließt, nicht mutlos.“ Nach diesen Worten habe der erste gelost: Aus Unverstand und Gier habe er es nicht hinreichend durchdacht, sei geradewegs auf die größte Gewaltherrschaft losgegangen und habe sie gewählt. Er merkte nicht, dass neben anderem Leid das Schicksal damit verbunden war, seine eigenen Kinder zu verzehren.  

 Sobald er es nun in Ruhe betrachtete, habe er vor Trauer auf sich eingeschlagen und seine Wahl beklagt, ohne sich an die Worte des Propheten zu halten. Denn er habe die Schuld für das Unheil nicht bei sich, sondern beim Schicksal, beim Daimon und bei allem sonst mehr als bei sich gesucht. Er gehörte aber zu denen, die aus dem Himmel kamen und hatte im vorigen Leben in einem geordneten Staat gelebt. Aber tugendhaft war er ohne Philosophie gewesen, nur aus Gewohnheit. So habe er auch gesagt, ertappe man von denen, die aus dem Himmel kämen, nicht weniger bei solchen Fehlentscheidungen, weil sie im Leid ungeübt seien. Die meisten aber von denen aus der Erde träfen, weil sie selbst gelitten und andere hätten leiden sehen, ihre Wahl nicht im Sturm. Deshalb, aber auch durch das Losglück, gebe es für die meisten Seelen einen Wechsel im Guten und im Schlechten. Wenn einer allerdings, sooft er in das Leben hier eintritt, richtig philosophiert und ihm das Wahllos nicht zum Schluss zufällt, scheint er nach der dortigen Offenbarung nicht nur hier glücklich zu leben, sondern auch keinen unterirdischen und steinigen Weg von hier nach dort und wieder hierher zurücklegen, sondern einen ebenen über den Himmel.  Denn dies Schauspiel sei sehens wert gewesen, wie die einzelnen Seelen ihre Lebensform wählten; es habe nämlich jämmerlich, lächerlich und sonderbar ausgesehen. Meistens habe man nach der Gewohnheit des früheren Lebens gewählt. 

 So habe er die ehemalige Seele des Orpheus das Leben eines Schwanes wählen sehen. Denn sie hasste das weibliche Geschlecht wegen seines Todes und wollte nicht von einer Frau geboren werden.  

Die des Thamyris habe er das einer Nachtigall wählen sehen. Er habe auch einen Schwan sich durch seine Wahl für ein menschliches Leben entscheiden sehen, und ebenso andere musikbegabte Tiere.

Die nach dem Los zwanzigste Seele habe sich aber ein Löwenleben erwählt. Dies sei die Seele des Telamoniers Aias gewesen, die in Erinnerung an den Waffenkampf kein Mensch habe werden wollen.

Die nächste sei die Agamemnons gewesen; auch sie habe wegen seines Schicksals aus Verbitterung über das Menschengeschlecht das Leben eines Adlers eingetauscht. 

Mitten drin habe auch die Seele der Atalante gelost. Sie habe die großen Auszeichnungen eines Wettkämpfers gesehen und nicht vorbeigehen können, sondern zugegriffen.

Nach ihr habe er die des Epeios, des Sohnes des Panopeus, in die Gestalt einer kunstbegabten Frau eintreten sehen, in der Ferne aber habe er unter den letzten die der Lachfigur Thersites einen Affen überziehen sehen.

Zufällig sei die Seele des Odysseus durch das Los als allerletzte zur Wahl gegangen. Aber die Erinnerung an die früheren Nöte hatten sie von allem Ehrgeiz geheilt. So sei sie lange Zeit umhergegangen, habe das Leben eines geruhsamen Privatmannes gesucht und mit Mühe auch gefunden. Alle anderen hatten es verschmäht. Bei seinem Anblick habe sie gesagt, dasselbe hätte sie getan, wenn das Los sie an den Anfang gestellt hätte, und hätte es gern erwählt.   

Ebenso seien nun auch die Seelen der übrigen Tiere teils in Menschen übergewechselt teils untereinander: ungerechte verwandelten sich in wilde, gerechte aber in zahme, und alle nur denkbaren Mischungen seien vorgekommen.

Nachdem nun aber alle Seelen ihre Lebensweisen gewählt, seien sie nach der Ordnung, wie sie gelost, zur Lachesis hinzugetreten; jene aber habe jedem den Daimon, den er sich gewählt, zum Hüter seines Lebens und Vollstrecker des Gewählten mitgesendet. Dieser nun habe sie zunächst zur Klotho, unter deren Hand, wie sie eben den Schwung bewirkend an der Spindel drehte, geführt, um das von jedem gewählte Geschick zu befestigen; und nachdem er diese berührt, habe er sie zur Spinnerei der Atropos geführt, um das Angesponnene unveränderlich zu machen. Von da sei er ohne sich umzuwenden an der Notwendigkeit Thron getreten, und durch diesen hindurchgegangen, nachdem auch die andern insgesamt dies getan, seien sie dann insgesamt durch eine atemraubende Hitze  auf das Feld der Vergessenheit gekommen, denn es sei entblößt von Bäumen und allem, was die Erde trägt.

Dort hätten sie sich, da es schon Abend geworden war, an dem Flusse Sorglos gelagert, dessen Wasser kein Gefäß halten könne. Ein gewisses Maß nun von diesem Wasser müsse jeder trinken; die aber ihre Vernunft nicht schütze, tränken über das Maß, und wie einer getrunken habe, vergesse er alles. Nachdem sie sich nun zur Ruhe gelegt und es Mitternacht geworden, sei ein Ungewitter und Erdbeben losgebrochen, und plötzlich seien sie dann der eine hierhin der andere dorthin hinauf ins Leben getrieben worden, hüpfend wie Sterne. Er selbst habe vom Wasser nicht trinken dürfen, wodurch und wie er aber wieder zu seinem Leibe gekommen, wisse er nicht, sondern nur, dass er plötzlich morgens aufschaute und sich auf dem Scheiterhaufen liegen sah.

So blieb diese Rede, Glaukon, erhalten und ging nicht verloren, und könnte auch uns erhalten, wenn wir ihr folgen; wir werden dann den Fluss der Lethe gut überqueren und unsere Seele nicht beflecken. Nein! Wenn es nach mir geht, glauben wir, dass die Seele unsterblich ist und in der Lage, alles Übel und alles Gute zu ertragen. Wir werden uns immer an den Weg oben halten und uns der Gerechtigkeit aus Einsicht in jeder Weise Weise befleißigen, damit wir uns selbst und den Göttern lieb seien, sowohl solange wir noch hier weilen, als auch, wenn wir den Preis dafür davontragen, und ihn wie die Sieger ringsum einsammeln, und damit es uns sowohl hier als auch auf der tausendjährigen Wanderung, die wir eben durchlaufen haben, wohl ergeht.  

Quelle: http://www.gottwein.de/Grie/plat/PlatStaat613e.php